Du bist auf dem Weg nach Hause und fährst gerade die Hauptstraße lang. Du denkst über den Tag nach, wie sehr dich dieser eine Kollege schon wieder genervt hat und überlegst schon mal was du heute zu Essen machen sollst, schnell und lecker soll es sein, denn die Wäsche muss auch noch gemacht werden. Huch-hättest du hier nicht abbiegen sollen? Ja verdammt, wie konntest du das denn übersehen, du warst wohl mit deinen Gedanken woanders. Bist du denn schon an der großen Kreuzung vorbei? War die Ampel vorhin eigentlich grün? Du hattest da gar nicht so sehr drauf geachtete, die war rot, du bist bestimmt über rot gefahren. So ein Mist! Wo warst du nur mit deinen Gedanken?
Herzlich willkommen in einer Form von Dissoziation.
"Der Begriff Dissoziation bezeichnet das (teilweise bis vollständige) Auseinanderfallen von psychischen Funktionen, die normalerweise zusammenhängen." ¹
Klingt erstmal gruselig, trifft aber nahezu alle Menschen im Leben mindestens einmal.
Wie im Beispiel oben, war der Körper und der Geist irgendwie nicht am selben Ort. Geistig war man schon beim Abendessen, während der Körper aber noch Auto gefahren ist. Einige nennen es Tagträumen, träumen, dösen oder abschalten, aber eigentlich ist das auch nur eine Art von (leichter) Dissoziation. Der Körper, die Sinne&Reflexe die beim Autofahren benötigt werden, waren aktiv, während man auf gedanklicher Ebene aber größtenteils bei den darauf folgenden Stunden war. Hätte es vor einem eine abrupte Bremsung gegeben, wäre man wieder "aufgewacht" und hätte reagiert, vielleicht etwas verzögert, für solche Situationen wäre man noch präsent genug, aber ob man an der richtigen Straße abbiegt, war da gerade nebensächlich.
Ein Vorgang, der wie im Beispiel einfach ärgerlich, aber harmlos sein kann oder aber auch ein Anzeichen einer Krankheit, Störung, Symptom oder eines Problems.
Das Thema der Dissoziationen ist relativ komplex und auch vor allem für nicht betroffene etwas schwer zu verstehen oft. Dissoziationen können beim gesunden sowie erkrankten Menschen auftreten.
Es gibt diverse Erkrankungen bei denen die vermehrte und verstärkte Dissoziation ein Symptom sein kann, aber es gibt auch einige Krankheitsbilder der dissoziativen Störungen. Da gibt es zum Beispiel die dissoziativen Krampfanfälle, bei der der Betroffene Krampfanfälle bekommt, die epileptischen Anfällen sehr ähnlich sind, der dissoziative Stupor, bei welchem willkürliche Bewegungen verringert sind oder ganz ausfallen, oder auch die dissoziative Sensibilitäts-und Empfindungsstörung, bei der ein (teilweiser) Verlust der Hautempfindungen oder des Seh-,Riechs-oder Hörvermögen vorliegt. Diese Beispiele sind eigenständige Krankheitsbilder, können aber genauso wie weitere auch Symptom anderer psychischer Erkrankungen sein.
Dissoziationen können einmalig oder wiederkehrend auftreten. Als mir gesagt wurde, dass meine Aussetzer und Erinnerungslücken eine Form von Dissoziation sind, war ich etwas verwundert. Ich war mir dem vorher nie bewusst und hatte es als normal angesehene. Wie gesagt, sind Dissoziationen in einem gewissen Maße auch normal, aber bei mir wurde es irgendwann im Therapieprozess auffällig. Mir fehlten sehr oft Erinnerungen, Empfindungen oder ich war "abwesend". Mit der Zeit nahm dieses zu und ist gerade im Therapiekontext vermehrt aufgefallen. Mein Körper fühlt sich meistens fremd an, wie der eines anderen, was man Depersonalisation nennt, oder die Umwelt kommt mir vor, als ob alles in 2D wäre und ich wie in einem Theaterstück jederzeit hinter die Pappkulissen gucken könnte,das ganze nennt man Derealisation.
Manchmal steige ich in Gesprächen oder Situationen aus. Ich kriege alles noch irgendwie mit, aber nur durch einen dicken fetten Filter an grauen Wolken. Alles ist gedämpft und leiser. Manchmal kann ich dann nichts hören, oder auch nicht wirklich oder nur verschwommen sehen, manchmal kriege ich das sprechen nicht so richtig hin. Ab und An kriege ich eine Art Anfall bei dem ich noch anwesend bin, aber mir die Steuerung meines Körpers quasi abhanden kommt und ich ihn willkürlich (teilweise) kaum oder gar nicht steuern kann.
Aber warum macht der Körper oder Geist sowas?
Überforderung. Mir wurde das von einer Therapeutin mal ganz niedlich erklärt. Im Gehirn sitzen die kleinen Männchen bei ihrer Arbeit am Fließband und erledigen fleißig und routiniert ihre Arbeit. Sie sorgen dafür, dass die ankommenden Reize und Eindrücke weiter verarbeitet und zugeordnet werden. Bei einer dissoziativen Situation kommt diese Arbeit ins stocken. Irgendwo läuft die Arbeit nicht ganz so rund und alles staut sich an, die Männchen geraten ins Schwitzen und wir werden unruhig oder gestresst. Nimmt dieser Zustand rasch zu oder hält länger an, kann es zu einer Dissoziation kommen. Dabei poltern die Reize und Eindrücke nur so rein, können aber nicht mehr weiter verarbeitet werden, weil die Männchen nicht hinterherkommen und umgefallen sind. Eine dissoziative Situation entsteht.
Ich erkläre es gerne, wie einen Computer. Es fühlt sich für mich bisschen an, wie als wenn mein Gehirn ein Computer wäre, der einen Neustart machen muss. Einmal runter fahren, der Bildschirm bleibt für eine gewisse Zeit schwarz und dann fährt er wieder hoch und alle Funktionen starten neu. Manchmal geht das schneller, mal langsamer, mal läuft alles geordnet ab, mal hängt sich der Computer einfach auf und stürzt dann ab, mal fängt er sich schnell wieder, mal dauert der Neustart länger.
Man ist also mit etwas überfordert, etwas konnte nicht so schnell verarbeitet werden, wie es geschieht, Dinge poltern auf einen ein, irgendetwas wurde zu viel. Das kann alles zum Beispiel während eines Unfalls oder Ereignis vorkommen, bei vielen psychisch erkrankten kommt es aber auch bei "alltäglichen" Situationen vor. So kann das Einkaufen im Supermarkt, die Menschen auf der Straße, das laute Knallen der Tür oder ein ganz normales Gespräch zum Beispiel dazu führen.
Dissoziationen sind eigentlich eine Art Schutzmechanismus des Gehirns. In einer echten Gefahrensituation kann das Abspalten von gewissen Teilen eine Überlebensstrategie sein und einem Menschen die Situation erträglicher machen. Wenn aber im Gehirn etwas falsch gepolt ist, oft aufgrund von Erfahrungen, kann das Gehirn "normale" Situationen als zu viel oder gefährlich einstufen und man dissoziiert.
Wie geht man mit sowas um?
Das ist ganz und gar unterschiedlich. Viele leichtere Dissoziationen kriege ich beispielsweise von alleine geregelt, durch abwarten oder Beruhigungsstrategien, die ich noch selber anwende. Die Situation für einen Moment verlassen hilft, oder auch das Setzen von Reizen von außen, also zum Beispiel ein leichter Schmerzreiz, etwas Saures oder Scharfes essen, Wärme , Kälte, Gerüche, Geräusche , Berührungen, da hat jeder so seins. Mir hilft es oft auch gar nicht in eine zu rutschen, wenn ich irgendwas in der Hand habe oder ein Bonbon lutsche, Atemübungen mache oder ähnliches. Das "verankern in der Realität" wird das im Fachjargon genannt. Wenn es stärkere Dissoziationen sind braucht es mal Hilfe von Außen, um da schneller wieder rauszukommen. Irgendwann endet die Dissoziation immer, aber da können schlimmstenfalls Stunden und Tage vergehen bei. Gerade bei stärkeren Dissoziationen hilft es vielen einen Geruch zu riechen, gerne genommen wird Ammoniak, das holt viele Leute schnell wieder zurück, es beißt schön kräftig in der Nase.
¹https://de.wikipedia.org/wiki/Dissoziation_(Psychologie)
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