Den Text habe ich mal für ein anderen Blog geschrieben, deswegen wiederholen sich einige Sachen.
Wie lebt es sich mit Bulimie?
Scheiße. Also wirklich, das hat nicht mehr viel mit Leben zu tun, es ist überleben. Das bemerkt man meistens aber erst nach einiger Zeit. Anfangs ist die Bulimie die Lösung des Problems, egal welches Problem es zu sein scheint und ob man sich überhaupt eines Problemes bewusst ist. Man hat endlich einen Ausweg gefunden, einen Weg gefunden neue Kraft zu tanken, ein neues Ziel, ein neues Hobby, eine Ablenkung. Das war bei mir zumindest so. Ich kann mich nicht mehr ganz daran erinnern wie es genau angefangen hat, aber ich weiß noch, dass ich dachte, jetzt habe ich endlich eine Sache gefunden die ich gut kann und die dazu führt, dass ich jemand anderes werde. Der Gedanke abzunehmen war anfangs der treibende Gedanke, aber das änderte sich später. Ich hatte damals schon keine Kontrolle über mein Essverhalten, ich aß immer bis ich nicht mehr konnte, ohne zu wissen warum. Ich kannte einfach kein Maß, keine Grenzen und hatte Probleme es zu stoppen. Damit ich nicht dick und rund wurde, habe ich schnell das Erbrechen angefangen, sowie viel Sport zu treiben. Ich hatte nie eine “Top-Figur”, dazu aß ich einfach zu viel um wirklich abzunehmen. Essgestört kannst du mit jedem Gewicht sein, egal ob Unter-, Über oder Normalgewichtig. Relativ schnell, glaube ich, wurde die Bulimie zur Sucht. Ich war regelrecht abhängig vom Essen und somit auch von dem anschließendem Erbrechen, damals war mir das aber nicht bewusst. Ich führte jahrelang ein Doppelleben. Auf der einen Seite war ich die Fleißige in der Schule, sowie im Haushalt, engagiert, machte Sport, hatte ein Pflegepferd, hatte Freunde, meist gute Laune, galt als Sonnenschein und schien immer alles gut hinzukriegen (das glaubte ich selber auch). Auf der anderen Seite, gab ich alles Geld was ich hatte für Essen aus. Essen war der Gedanke, der mir 24/7 im Kopf rumkreiste. Ich hielt es manchmal gar nicht aus, eine Unterrichtsstunde nichts zu essen, so stark war der Drang. Das was ich morgens in der Schule aß, war meist ein ganzer Tagesbedarf an Nahrung. Deswegen musste alles was ich anschließend aß, wieder verschwinden, in der Toilette oder sonst wo. Bei meinen Eltern tat ich so, als hätte ich in der Schule nichts gegessen, in der Schule tat ich, als ob ich Zuhause nichts essen würde. So ging das viele Jahre lang, ohne dass ich ernsthaft ein Problem in der ganzen Sache sah. Es funktionierte ja alles so wie ich es machte, nur mein Geld wurde immer knapper und ich immer unfitter. Ich tüftelte Lügenkonstrukte, Ideen und Geheimnisse aus, um nicht aufzufliegen. Ich stahl Essen, stahl Geld, kotzte in Becher, Mülleimer, Toiletten, Hecken oder einfach auf den Boden. Ich tat alles dafür, dass keiner etwas bemerkte, während mein größter Wunsch war, dass mich jemand rettet. Ich gewöhnte mich daran und machte halt so weiter, bis zu meiner Abizeit. Ich fing da an das ganze langsam als Belastung zu sehen,es problematisch zu finden, aber ich kümmerte mich nicht weiter drum, ebenso wenig wie die wenigen Leute, denen ich mal davon erzählte.
Nach meinem Abitur ging ich für ein Jahr als Au Pair in die USA. Dort war ich fast symptomfrei. Ich hatte kein gesundes Essverhalten, das nicht, aber ein viel stabileres als in Deutschland. Dort lernte ich auch das erste Mal, was leben heißt. Ich war frei und konnte endlich mal ich sein und genoss es in vollen Zügen. Zurück in Deutschland ging das Ganze schneller wieder los, als ich gucken konnte. Spätestens als ich dann in eine andere Stadt zog zum studieren war ich wieder voll drin in dem Spiel. Es wurde noch extremer, ich hatte zusätzlich richtige und immense Essanfälle und eigentlich gar keine Kontrolle mehr über mein Essverhalten. All die Jahre vorher hatte ich wenigstens das Gefühl es noch ein bisschen kontrollieren zu könne, aber nicht mehr zu dem Zeitpunkt. Die Bulimie vernebelte meinen Kopf rasend schnell und drängte alles andere zur Seite. Relativ schnell holte ich mir dann aber Hilfe, indem ich in ein Beratungszentrum ging. Ich wollte nicht so leben, ich wollte das “Amerika-Feeling” behalten bzw. wieder zurück dahin und weitermachen. Ich traf dort auf offene Ohren, helfende Hände und die absolut beste Unterstützung und fand relativ schnell meinen ersten Therapieplatz. Dort schaffte ich es das erste Mal ein bisschen über mein Innenleben zu reden, mich selber ein bisschen kennen zulernen, aber die Essproblematik verschlimmerte sich zusehends. Ich hatte schon lange die Kontrolle über alles verloren. So kündigte ich mein Job und mein Studium, ging in die erste Klinik und verbrachte da ein knappes halbes Jahr. Danach ging ich vorübergehend zurück zu meinen Eltern, war aber glaube ich nach 2-3 Wochen wieder in meinem alten Bulimie-Rythmus. Ich hielt es ohne nicht aus und schaffte nicht den strikten Essplan aus der Klinik in mein Leben zu integrieren. Was ich aber in der Klinik entschieden habe ist, dass ich in eine betreute WG ziehe, am besten eine auf Essstörungen spezialisierte. Die nahm mich aber nicht, so kam ich in eine andere Wohngruppe, die für junge Erwachsene mit psychischen Problemen allgemein gedacht war. Ich liebte die Zeit dort, ich hatte super Betreuer, super Mitbewohner und das erste Mal das Gefühl ein Zuhause zu haben. Das störte die Bulimie aber wenig, sie wurde langsam aber stetig immer schlimmer. Ich hatte gleichzeitig eine Ausbildung angefangen, aber musste die dann auch nach einigen Monaten wieder beenden, da ich zu krank wurde und so kam ich in die nächste Klinik. Diese Klinik hatte andere Ansätze und ich auch eine andere Einstellung und die zwei Monate dort waren enorm hilfreich. Nach der Entlassung kam ich ganz langsam, aber stetig, besser mit dem Essen klar. Das freiere Konzept der Klinik war passend für mich und meine Bezugspersonen dort haben nicht nur darauf geachtete, dass ich besser esse, sondern endlich geguckt was eigentlich los ist. Das alles und auch mein Wille, dass ich endlich damit aufhören wollte, führte dazu, dass ich ganz, ganz langsam, aber stetig, immer besser mit dem Essen klar kam. Die Essanfälle und Rückfälle wurden über die Monate und Jahre stetig weniger und ich lernte, den Druck der immer damit verbunden ist, auch mal auszusitzen und dem nicht sofort nachzugeben. Die Bulimie hatte dort, und eigentlich auch schon vor vielen Jahren, schon lange nichts mehr mit dem Essen ansich zu tun, sondern ich verstand, dass es eine Art der Emotionsregulation für mich ist, ein Gefühl von Kontrolle, Selbstbestimmtheit und ein Weg für mich, mit allem um mich herum klar zukommen. So, oder so ähnlich, ist es bei einem Großteil der Betroffenen. Bulimie, oder auch Essstörung allgemein, hat nicht das Essen an sich als Problem, sondern das Essen wird genutzt um mit anderen Problemen klar zukommen. Viele Jahre hatte die Bulimie mich im Griff, ich war ihr ausgeliefert, wie eine schwer Suchtabhängige, aber durch die zweite Klinik und auch das betreute Wohnen, schaffte ich es die Bulimie immer mehr zu kontrollieren, und eher mit ihr an meiner Seite zu arbeiten und sie auch in gewissem Maße wertzuschätzen. Die Bulimie hat/te ihren Sinn, sie schützte mich vor Dingen, die ich anders nicht aushielt, sie schaffte mir Wege und Möglichkeiten, die ich sonst nicht hatte, sie half mir Kontrolle über mein Leben zu behalten, während sie mir heimlich die Kontrolle über mich selber nahm. Sie ist eine falsche Freundin, vermittelt einem, dass sie hilft, was auch kurzfristig stimmt, aber schadet einem langfristig und frisst einen auf. Was ich dann leider nicht so schnell merkte, war, dass je weniger die Bulimie wurde, je mehr entwickelte ich eine Zwangsstörung.
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